Der türkische Ministerpräsident Erdoğan kämpft gegen die Bewegung des Predigers Fethullah Gülen und wirft ihr vor, in der Türkei einen „Staat im Staate“ gebildet zu haben. Auch in Deutschland bemüht sich Gülen um Einfluss. Ein Blick hinter die Fassade dieser klandestinen Organisation
Von Mustafa Esmer | 09.03.2014 (Erstveröffentlichung auf DTZ-News)
Deus lo vult! (deutsch: Gott will es) antwortete am 27. November 1095 die Menschenmenge, als Papst Urban II. auf der Synode von Clermont zur Befreiung Jerusalems aufrief. Mit diesen Worten wurde der erste Kreuzzug begründet und den teilnehmenden Gotteskriegern jeweils die Absolution versprochen. Der Templerorden war es, der in dieser Zeit die ersten geistlichen Ritter hervorbrachte, die das Rittertum und das Mönchsein vereinten. “Das Kreuz nehmen” war ein Versprechen und Dienst in einem. Die Teilnahme kam für die Gläubigen einer Pilgerfahrt gleich, durch die ihnen ihre Sünden vergeben wurden. Sie wähnten sich im Auftrag Gottes, dessen Wille durch den Papst verkündet worden sei.
Ähnliche Strukturen beobachten wir unter den Anhängern Gülen´s und in seiner „Hizmet-Bewegung“. Das „Dienen“ ist nicht nur ein Versprechen, sondern gleicht einer Pilgerfahrt für die Gläubigen, an dessen Ende als Belohnung das Paradies auf sie wartet. Vergleichbar den Templern bezeichnen sich die Anhänger des in Pennsylvania/USA lebenden Predigers Fethullah Gülen auch als: „Soldaten des Lichts“. Dieser Glaube macht sie zu einer Gefahr für unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung. Während im ersten Beitrag die Bedeutung der Bildungseinrichtungen hervorgehoben wurde soll im folgenden Teil die latente Bedrohung durch das Netzwerk beschrieben werden. In Deutschland betreibt die Gülen-Gemeinde mehr als 300 Schulen, Nachhilfezentren, Medienunternehmen und ein Institut.
Die Notwendigkeit einer kritischen Bewertung
Seit Jahren inszeniert sich die Gemeinde des muslimischen Predigers Fethullah Gülen als lose Initiative, interessiert an Bildung und dem Weltfrieden. Experten malen jedoch ein ganz anderes Bild von dieser Bewegung und beschreiben ihre klandestine Struktur, ihren machtpolitischen Ehrgeiz, das mutmaßliche Brainwashing junger Menschen, die kompromisslose Verfolgung von Kritikern und den Personenkult um Gülen als latente Gefahr. Aktuelle politische Machtkämpfe der Gülen-Anhänger mit den jeweiligen Regierungen in Aserbaidschan und Türkei geben uns einen Einblick, welche potenzielle Gefahr von dieser Gruppierung ausgeht.
Am 06. März 2014 vermeldeten die internationalen Nachrichtenagenturen, dass die Regierung in Aserbaidschan alle Bildungseinrichtungen, die der Gülen-Bewegung zugerechnet werden, verstaatlicht habe. Auslöser war ein “communiqué interne”, adressiert an Fethullah Gülen persönlich und verfasst von Enver Özeren, dem Verantwortlichen für die Bildungseinrichtungen der Gülen-Gemeinde in Aserbaidschan, dass an die Öffentlichkeit durchgesickert ist. Enver Özerens Brief beinhaltet brisante Details über die Struktur und die politischen Ziele der Gemeinde in Aserbaidschan.
Entlarvende Textpassagen wie: „Durch die Arbeit unseres Freundes im Präsidialamt haben wir unsere Belegschaft im Innenministerium, Justizministerium und Bildungsministerium ganz in unserem Sinne ausbauen können“ wurden als Gefahr einer schleichende Unterwanderung der Staatsapparats gewertet und sofortige rechtsstaatliche Maßnahmen eingeleitet. Im ersten Schritt hat die aserbaidschanische Regierung alle Bildungseinrichtungen der Gemeinde verstaatlicht, wie der aserbaidschanische Fernsehsender ANS berichtete. Betroffen seien 13 Schulen (darunter auch die Çağ-Kafkas Universität in Baku) und 11 Nachhilfezentren. Die Ausprägungen einer Infiltration staatlicher Organe durch die Anhänger Gülen´s erleben wir derzeit auch in der türkischen Republik.
Die Hintergründe des Konflikts zwischen Gülen und Erdoğan
Im Jahr 2010 schien die Welt noch in Ordnung, als Fethullah Gülen in seinem Aufruf am 1. August 2010 an die türkische Nation appellierte, das von der Regierung initiierte Referendum zur Änderung der Verfassung zu unterstützen. Die Sache sei so wichtig, dass man eigentlich „selbst die Toten aus den Gräbern zur Stimmabgabe rufen“ müsse. Das Referendum wurde am 12. September desselben Jahres mit 58 Prozent Zustimmung angenommen.
Schon im Juni 2010 stritten sich Gülen und die Regierungspartei AKP (Adalet ve Kalkınma Partisi; deutsch: Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) jedoch über die Flottille, die die israelische Seeblockade des Gazastreifens durchbrechen wollte und humanitäre Güter geladen hatte, um den Menschen in Gaza zu helfen. Die Aktion war von der türkisch-islamischen Hilfsorganisation IHH Humanitarian Relief Foundation geleitet worden und hatte mit Billigung Erdoğan´s stattgefunden.
Während die türkischen und muslimischen Medien einvernehmlich, die neun bei der Erstürmung des Leitschiffs „Mavi Marmara“ in internationalen Gewässern, von israelischen Soldaten, getöteten Türken als „Märtyrer“ bezeichneten und die türkische Regierung ihren Botschafter aus Tel Aviv abzog, missbilligte Gülen im Wall Street Journal die Aktion als unrechtmäßige Herausforderung der staatlichen Autorität Israels.
Die offene pro-israelische Positionierung Gülen´s betrachteten seine Kritiker als Beleg für eine Zusammenarbeit der Bewegung mit dem Staat Israel, versuchte dieser doch bereits seit Jahren die benannte Hilfsorganisation als Terrorgruppe zu brandmarken, was ihm bis heute jedoch nicht gelungen ist. Auf us-amerikanische Initiative hin, hat sich Israel am 22. März 2013, offiziell bei der türkischen Regierung für die unverhältnismäßige Erstürmung und Tötung von unbewaffneten Friedensaktivisten entschuldigt. Wie Günter Seufert in seiner Studie: „Überdehnt sich die Bewegung von Fethullah Gülen?
Eine türkische Religionsgemeinde als nationaler und internationaler Akteur“ beschreibt, seien drei miteinander aufs engste verbundene Komplexe ursächlich für den Konflikt. Die Seilschaften des Gülen-Netzwerks im Sicherheitsapparat, in der Justiz und in anderen sensiblen Politikbereichen.
Erdoğan selbst habe den Sondergerichten und den dort tätigen Staatsanwälten vorgeworfen, sich wie ein „Staat im Staate“ zu benehmen. Dass die Regierung diese Prozesse bei den Sondergerichten, deren Urteile sie wiederholt aufs Schärfste kritisiert, belassen habe, gewähre einen tiefen Einblick in die Machtbalancen und Winkelzüge der türkischen Politik. „Denn wären die Sondergerichte vollständig abgeschafft worden, hätte die Regierung mit einer Welle von Freilassungen von Angeklagten aus den Ergenekon-Verfahren und einer anschließenden Wiedererstarkung des Militärs rechnen müssen. […]“ . Für neue Staatsschutzverfahren hat die Regierung indessen regionale „Große Strafkammer(n)“ zuständig gemacht, was sie vor weiteren Aktionen der Seilschaften des Gülen-Netzwerks in Polizei und Justiz schützen soll.
Dass die Anhängerschaft Gülen´s auf eine konfrontative Haltung gegenüber der Regierung umschwenke, sei für Außenstehende vollkommen überraschend gewesen, denn jede noch so stark in der Bürokratie verankerte gesellschaftliche Kraft könne, ohne den Rückhalt des Militärs, in der Türkei, der Regierung nicht wirklich gefährlich werden. Man spricht deshalb bereits vom politischen Selbstmord der Bewegung. Er nennt drei Gründe dafür, dass die Bewegung ihre frühere politische Zurückhaltung und Vorsicht aufgegeben hat:
- Zum einen seien mit dem großen Zulauf, den sie im letzen Jahrzehnt gefunden habe, auch ihre finanziellen, ökonomischen und politischen Möglichkeiten gewachsen. Damit seien auch die Erwartungen ihrer Angehörigen in ideeller und finanzieller Hinsicht gestiegen. Ein rentenökonomisches Denken sei eingezogen, das sich auf Posten in der Bürokratie, die Zuteilung von Staatsaufträgen, die Ausweisung von Bauland und die staatliche Förderung der ehemals privat initiierten Bildungseinrichtungen im In- und Ausland richte.
- Dieser gesteigerten Gewinnerwartung der Bewegung stehe die Angst vor dem Ableben Fethullah Gülen´s gegenüber, dessen Gesundheit schwer angeschlagen sei und ohne den die Organisation auseinanderzufallen drohe. Gleichzeitig sei die Expansion des Netzwerks im Ausland ins Stocken geraten. In den Ländern Zentralasiens werde der anfangs große Spielraum, den einige Regierungen der Bewegung gewährten, beschnitten und im Nahen Osten sehe sich die Gülen-Gemeinde einer zunehmenden Radikalisierung ihres religiösen Umfelds gegenüber, was die Verbreitung ihrer Version eines gemäßigten Islam erschwere.
- Die Bewegung habe in der Sicherheitsbürokratie der Türkei bereits vor dem Ausbruch des offenen Konflikts mit der Regierung einen Rückschlag hinnehmen müssen. Im März 2011 übertrug die Regierung dem Nationalen Geheimdienst (MİT) die größte Abhöranlage der Türkei (GES), die bis dahin dem Büro des Generalstabs unterstellt gewesen war. Die Schwächung des Militärs ging also nicht mit einer Stärkung der Polizei einher, in der die Anhänger Gülen´s besonders gut organisiert seien, sondern kam dem Geheimdienst zugute, der unter der Kontrolle Erdoğan´s stehen.
Indoktrination der Anhänger
Die Bewegung verweist darauf, dass Missionierung oder auch nur der Religionsunterricht in den offiziellen Institutionen der Bewegung keine Rolle spielt. Zeitgleich macht Sie jedoch keinen Hehl daraus, dass ihre zivilgesellschaftlichen Aktivitäten aus einem streng nach Prediger Gülen´s theologischem Weltbild ausgerichteten Antrieb heraus erfolgen. Experten betonen, dass es kein Geheimnis sei, dass die große Zahl der in Schulen und Vereinen arbeitenden Ehrenamtlichen, aber auch der Lehrer, die der Bewegung angehörten, ihr pädagogisches Engagement als „gottgefälliges“ Handeln per se verstünden. Gleichzeitig lasse sich feststellen, dass die Aktivisten von einem starken Gefühl der Zugehörigkeit zur Bewegung und der Loyalität mit ihr erfüllt seien. Darüber hinaus sei ein gemeinsamer Habitus der Gefolgsleute Gülen´s nicht zu übersehen.
Der Alltag soll durch die Lektüre von Schriften Gülen´s gekennzeichnet sein, berichten Aussteiger. Es finde eine soziale Konditionierung statt, die das Verhalten der Aktivisten präge. Diese manifestiere sich in Gestalt von Gruppendiskussionen und dem Gebot der Verantwortung für das Handeln des jeweils anderen WG-Mitglieds. All dies führe zu einer Verstetigung von intellektuellen, emotionalen und handlungsleitenden Dispositionen, die den genannten Habitus hervorbrächten, so die Experten. Sie bewerten die Wohngemeinschaften als den dynamischen Kern Gülen´s Gemeinde.
Deren ganze Energie solle auf weiteres Wachstum der Bewegung gerichtet sein und – als Fernziel – auf die Versittlichung der Gesellschaft, was in Gülen´s Denken im Hinblick auf die muslimischen Länder mit einer zivilgesellschaftlichen Re-Islamisierung zusammenfällt. Um den Einzelnen zum „Soldaten des Lichts“ zu machen, der all sein Streben auf diese Aufgabe richtet, gelte es, die „leeren Köpfe“ einer „nach inhaltlosen Schablonen lebenden Generation“ mit den Wahrheiten eines strikt nach Gülen´s Auslegungen ausgerichteten Glaubens zu füllen.“
Die Anhänger der Bewegung sind davon überzeugt, dass sie einen offenbarten göttlichen Auftrag erfüllen und beziehen sich dabei auf Traumbotschaften von Gülen, in der angeblich Gottes Vetreterschaft auf Erden nur dieser Gemeinde zugesprochen wird. Nach Deutung dieser Traumbotschaften gelte Gülen für seine Anhänger als der erwartete Erneuerer des Glaubens und vielen sei sein Wissen und seine Predigten Ausdruck göttlicher Inspiration.
Kern der Bedrohung
Zunächst müssen zwei Aspekte kritisch betont werden. Zum einen der Personenkult um Fethullah Gülen und zum anderen der Glaube an seine Unfehlbarkeit. Diese beiden Tatsachen, die keinerlei Grundlage in der Religion des Islam selbst finden, stellen die größten Faktoren dar, die an der religiösen Integrität des Netzwerks zweifeln lässt. Der Islam verbietet strikt einen Menschen anzubeten und Unfehlbarkeit gebührt einzig Gott.
Im Dezember 2012 startete die Anhänger des Web-Kollektivs Anonymous eine Kampagne gegen die Gülen-Bewegung, wo sie auf die systematische Verhaftung von Gülen-kritischen Journalisten in der Türkei verwiesen und anmerkten, dass jegliche Kritik an der Bewegung oder an der Person Gülen sofort durch Einschüchterung, Erpressung oder Einsatz rechtsstaatlicher Mittel zum Schweigen gebracht werde. Auch die Internetzensur sei eine Idee Gülen´s. In diesem Aufruf verweist Anonymous darauf, dass der türkische Sicherheitsapparat und die Justiz von Anhängern Gülen´s infiltriert sei und die ihre geballte Macht nutzten, um freien Journalismus und Meinungsäußerung zu unterbinden.
Ähnlich wie in Deutschland, müssen Beamte in der Türkei einen Amtseid leisten. Dieser bezieht sich auf den uneingeschränkten Einsatz für die Prinzipien der – und die absolute Loyalität zur Republik. Der Islam verbietet die Lüge und die Intrige als Mittel zur Machterlangung. Auch der Verrat am Staat, steht man in dessen Dienst, gilt als Sünde. Dies wird eindeutig in den Worten Hz. Ali´s (r.a.) zum Ausdruck gebracht, denn er sagt: „Verzeiht alles, wenn jedoch jemand sein Vaterland verraten sollte, so verzeiht diesen Verrat niemals!“ Wenn wir uns nun bewusst machen, dass die Anhänger Gülen´s vorwiegend fromme, anständige und gläubige Menschen sind, dann stellt sich die Frage, wie sie dennoch gegen diese eindeutigen islamischen Gebote verstoßen können?
Die Moral
Allgemein betrachtet ist die Moral das faktische Handeln von Menschen. Genauer, welches Handeln in bestimmten Situationen erwartet wird beziehungsweise für richtig gehalten wird. Diesen deskriptiven Bedeutungsaspekt einer Moral bezeichnet der katholische Theologe Dietmar Mieth auch als Sittlichkeit oder Ethos. Sie umfasse „regulierende Urteile und geregelte Verhaltensweisen“, ohne dass die rationale oder moraltheoretische Rechtfertigung derselben beurteilt oder bewertet werde.
In seinem Aufsatz, mit dem Titel: “Ist das Gewissen wirklich die letzte Instanz?” schreibt der Philosoph Dr. Hans-Joachim Niemann: „Die spezifische Aufgabe der Moral ist es, dort zu wirken, wo uns niemand kontrollieren kann, wo unser Egoismus und unser Selbstinteresse freie Hand haben, sich auf Kosten anderer zu bedienen. In seiner Durchsetzungsfunktion enthält das Gewissen kein Wissen, ist kein ›Ge-Wissen‹ und ist nicht das Prinzip, nach dem wir handeln sollen, sondern es ist die Kraft, die uns zum Nachdenken zwingt und die dann dafür sorgt, dass wir das durch Überlegung Gefundene in eine Handlung umsetzen.“
Es ist Gülen selbst, der sich mit diversen Aussagen als „Auserwählter“ darstellt, wenn er beispielsweise verlauten lässt, dass der Prophet Mohammed (sav.) ihm im Schlaf erschienen sei und ihm aufgetragen habe seinen Anhängern mitzuteilen, dass sie nun doppelt so viele Tweets auf Twitter gegen die Regierung versenden sollen. Es existiert ein striktes Verbot von Kritik an dem Prediger.
Die mutmaßliche Gehirnwäsche in den Lichthäusern, von der alle Aussteiger berichten, kombiniert mit der Bewunderung, ja teilweise sogar der Anbetung Gülen´s, die über Jahre hinweg systematisch in den Institutionen des Netzwerks indoktriniert wird, führt zu einer Manipulation des persönlichen Wertesystems des Gläubigen, hin zu einer unkritischen Hörigkeit gegenüber den Geboten des Netzwerks im Glauben an die Heiligkeit und die Unfehlbarkeit Fethullah Gülen´s.
Deus lo vult!
Die Anhänger sind davon überzeugt einer heilige Sache zu dienen. Sie betrachten Gülen als einen gottgesandten Propheten und folgen ihm und seinen Anweisungen blind. Ähnlich wie viele Christen einst Papst Urban II. folgten und daran glaubten, durch Teilnahme an den Kreuzzügen Sündenablass zu erlangen und im „Auftrag des Herrn“ zu handeln, befolgen heute die Anhänger Gülen´s seine Befehle ohne die Richtigkeit zu hinterfragen. Das begründet das nichtislamische Verhalten und den Verrat am Amtseid, denn die Anhänger Gülen´s sind beim ausführen all seiner Befehle davon überzeugt: Deus lo vult!
Diese Tatsache macht Gülen und seine Anhänger zu einer gefährlichen Sekte, die der türkische Ministerpräsident sehr zutreffend mit der historischen Persönlichkeit Hasan-i Sabbah vergleicht. Dem legendären Anführer einer ismailitischen Religionsgemeinschaft, die heute unter dem Namen „Assassinen“ weltweit bekannt ist.